Freitag, 24. Dezember 2010

Interpretation der Textstelle von Seite 164 bis 166 ("Der Vorleser")


In dem 1995 veröffentlichten Roman „Der Vorleser“ von Bernhard Schlink wird über die Beziehung zwischen Michael Berg und seiner einundzwanzig Jahre älteren Freundin erzählt. Die Gefühle zu ihr nehmen Besitz von ihm, sie befindet sich in seinen Gedanken. Dies hat Auswirkungen auf sein gesamtes Leben, das durch diese Gefühle beeinflusst wird. Doch was will der Autor aussagen?
Zu Beginn des Romans ist Michael Berg ein fünfzehn Jahre alter Gymnasiast und Hanna Schmitz eine sechsunddreißig Jahre alte Schaffnerin. Sie begegnen sich das erste Mal, als Michael sich auf einem Bürgersteig vor Hannas Haus übergibt. Sie hilft ihm das Erbrochene wegzuwaschen und bringt ihn nach Hause. Die folgenden Wochen leidet er unter Gelbsucht. Als er wieder einigermaßen gesund ist, macht er sich mit einem Blumenstrauß auf den Weg zu ihr. Nach ihrer Unterhaltung beschließt Hanna, mit Michael die Wohnung zu verlassen und zieht sich ihre Strümpfe an, was Michael so fasziniert, dass, als sie ihn bemerkt, er vor Scham davonläuft. Er träumt die Nächte von ihr und als er sie schließlich ein zweites Mal besucht, hilft er ihr, Kohlen aus dem Keller zu holen. Er kommt völlig verschmutzt in die Wohnung, Hanna badet ihn und sie schlafen das erste Mal miteinander.
Es entsteht eine Beziehung und Hanna lässt sich schließlich jedes Mal etwas von Michael vorlesen. Ein Ritual des Badens, miteinander Schlafens und Vorlesens entsteht. In den Osterferien machen die beiden einen Fahrradausflug in den Odenwald, doch als Michael eines Morgens vom Brötchenholen zurückkommt, ist der für Hanna hinterlassene Zettel verschwunden und diese völlig aufgebracht in ihrem Zimmer. Es kommt zu einer Auseinandersetzung.
Die Beziehung dauert noch bis zum plötzlichen Verschwinden Hannas im Sommer.
Acht Jahre später nimmt Michael als Jurastudent an einem KZ-Prozess teil, an dem KZ-Wärterinnen verurteilt werden. Hanna ist eine der Angeklagten.
Sie hat sich nicht über die Anklage informiert und verweigert Schriftproben. Sie gesteht, dass sie bei den Selektionen der Mädchen im KZ ihr persönliches Ritual hatte und dass die die Hilfeleistung verweigert hat, als eine Kirche, mit den Gefangenen des KZ darin, verbrannte. Michaels Gefühle verwirren ihn, doch er entdeckt, dass Hanna nicht die ganze Schuld trägt, wie sie zugibt, dass sie Analphabetin ist. Nach einem Gespräch mit seinem Vater und einem Besuch des KZ Struthof, beschließt Michael, zu dem Richter des Prozesses zu gehen  und ihn über den Analphabetismus aufzuklären. Doch als er mit dem Richter spricht, gelingt ihm dies schließlich nicht. Hanna bekommt eine lebenslange Freiheitsstrafe.
In der Textstelle S.164-166 geht es um die Heirat Michaels, seine daraus entstandene Tochter Julia, seine Scheidung und die weiteren Beziehungen im Leben Michaels.
Die gesamte Textstelle ist in einer personalen Erzählform geschrieben, man bekommt Einblick in die Gefühle und Gedanken Michaels. Sie ist zeitraffend geschrieben („Ich habe als Referendar geheiratet“Z.1/S.164). Der Leser erfährt etwas über Michaels gesamte Beziehungen und das Leben seiner Tochter („Als Julia fünf war…“Z.7/S.165)
Die Textstelle spielt auf der realen Handlungsebene („Ich habe als Referendar geheiratet…“Z.1/S.164) und ist in drei Abschnitte aufgeteilt. Der erste (von Z.1/S.164 bis Z.9/S.165) basiert auf Ehe zwischen Gertrud und Michael, der zweite (von Z.9/S.165 bis Z.26/S.165) handelt ausschließlich über die Tochter Julia und allem, was Michael für sie leidtut. Der dritte (von Z.27/S.165 bis Ende des Kapitels) beschreibt Michaels Verhalten in seinem weiteren Leben. Die Abschnitte 1 und 3 haben gemeinsam, dass Hanna in beiden von Bedeutung ist.
Er ist ein sehr nachdenklicher Mensch („Ich dachte, ich würde sie verlieren,…“ Z.3/S.165), der in sich gekehrt ist und sehr sensibel in Sachen, die seine Tochter betreffen. Dies lässt sich an der Metapher „…brach es mir das Herz“ (Z.22/S.165) belegen. Michael ist ein intelligenter Mann, der als Referendar tätig ist. Seiner Frau Gertrud gegenüber ist er verschlossen, er „[erzählt] ihr nichts von Hanna“(Z.9/S.164). Michael begründet diese Verhalten mit einer rhetorischen Frage („Wer will (…) von den früheren Beziehungen des anderen hören (…)?“Z.9ff./S.164).
Gertrud ist „gescheit, tüchtig und loyal“ (Z.11f./S.164) und ist ebenfalls als Juristin tätig.
Die Ehe zwischen Gertrud und Michael funktioniert nicht, da dieser „das Zusammensein mit Gertrud mit dem Zusammensein mit Hanna…“(Z.19f./S.164) vergleicht. In Z.1f. auf Seite 165 zählt er auf, wie er Gertrud mit Hanna vergleicht(„…dass es nicht stimmt, dass sie nicht stimmt, dass sie sich falsch anfasst und anfühlt, dass sie falsch riecht du schmeckt.“). Dies verdeutlicht er durch Parallelismen der Sätze. Die Scheidung verläuft „ohne Bitterkeit“ (Z.8/S.165).
Seine Tochter Julia ist sehr lebensfroh, was sich durch den Vergleich „wie ein Fisch im Wasser“(Z.13/S.165) bemerkbar macht. Die Trennung ihrer Eltern verletzt sie sehr, „sie [begreift] lange nicht, was Scheidung bedeutete“ (Z.17f./S.165). Michael macht sich Gedankenüber sie, er findet, dass sie auf die „Geborgenheut [, die sie ihr] verweigerten“(Z.10/S.165) ein „Recht (…) [hat]“ (Z.24/S.165).
Michael beruft sich auch bei deinen späteren Beziehungen aus die Tatsache, dass die Frauen Hanna ähneln müssen („dass eine Frau sich ein bisschen wir Hanna anfassen und anfühlen, ein bisschen wie sie riechen und schmecken muss“ Z.29f./S.165. Z.1/S.166). Diesen Beziehungen gegenüber ist er offen („Und ich habe ihnen von Hanna erzählt.“ .2f./S.166), doch oftmals wird er von ihnen enttäuscht („Aber viel wollten die Frauen nie hören.“ Z.7/S.166). Er öffnet sich ihnen („Ich habe den anderen Frauen auch mehr von mir erzählt…“ Z.3f./S.166), damit sie „sich einen Reim auf das machen können, was ihnen an (…)[seinem] Verhalten und (…)[seinen] Stimmungen befremdlich erscheinen mochte“ (Z.4-6/S.166). Eine der Frauen, Gesina die Psychoanalytikerin, führt sein Verhalten auf sein Verhältnis zu seiner Mutter zurück, was durch eine rhetorische Frage verdeutlicht wird („Falle mir nicht auf, dass meine Mutter in meiner Geschichte kaum vorkomme?“ Z.13-15/S.166).
Nach diesen Beziehungen verschließt sich Michael wieder, er gibt „das Erzählen wieder auf“ (Z.17f./S.166). Er begründet dies, „Weil die Wahrheit dessen, was man redet, das ist, was man tut.“ (Z.18f./S.166)
In der Textstelle spricht er sehr sachlich, er erläuter, dass er Hanna nie wird vergessen können („Ich dachte, es würde sich verlieren. Ich hoffte, es würde sich verlieren.“ Z.3f/S.165). Er stellt fest, dass er völlig von Hanna eingenommen ist, doch er will „von Hanna frei sein“ (Z.4/S.165).
Den gesamten Text über ist Michael sehr tiefsinnig, die Gefühle zu Hanna haben seinen Horizont erweitert. Die sachliche Sprache macht es dem Leser sehr verständlich.
Die Beziehung von Hanna und Michael hat einen großen Einfluss auf Michaels gesamtes Leben. Hanna ist seine erste große Liebe, mit ihr hatte er das erste Mal Sex(Z.9-18/S.28) und sie verletzt ihn das erste Mal. Er verliebt sich in die, als er sie beim Strümpfeanziehen beobachtet (Kap.4/Teil 1). Doch die Beziehung erlaubt es ihm nicht, Kontakte zu Mädchen seines Alters zu knüpfen, die über Freundschaft hinausgehen. Er vergisst Hanna nie, er ist von ihr abhängig.
Hanna treibt ihn an, sich in der Schule anzustrengen, man könnte meinen, dass er nur durch sie ein gutes Abitur abgelegt hat und Jura studieren konnte („Und komm nicht wieder, wenn du nicht deine Arbeit machst…“Z.11f./S.36). Als sie weggeht, ohne ihn darüber zu informieren, ist es, als ob ein Teil seines Herzens fehlen würde („Tagelang war mir schlecht:“ Z.15/S.80). Nach dieser Beziehung befindet er sich lange nicht in einer ernsthaften Beziehung und ihm fallen „Liebschaften und Trennungen (…) nicht schwer“ (Z.6f./S.84).
Michael härtet ab im Verlaufe des Romans und als er erfährt, dass er eine Mörderin liebt, erdrückt ihn die Schuld. Er hat sie nie nach ihrer Vergangenheit gefragt und wenn doch, dann war sie sehr verschlossen. Sein ganzes Leben trägt Michael die Last der Schuld auf seinen Schultern.
Seine späteren Beziehungen vergleicht er mit Hanna, er vermisst sie und braucht einen Ersatz für sie. Eine Frau muss sich „ein bisschen wie Hanna anfassen und anfühlen, ein bisschen wie sie riechen und schmecken.“(Z.30/S.165 – Z.1/S.166). Eine Konsequenz war auch, dass er sich den Frauen gegenüber verschließt, da sie ihn, wenn er versucht ihnen von Hanna zu erzählen, entweder ignorieren oder ihn analysieren wollen.
Als er später beginnt Hanna auf Kassetten die Bücher vorzulesen, die er ihr bei den Ritualen während ihrer früheren Treffen vorlas, und sie ihr ins Gefängnis zu schicken, hat er die Chance wenigstens ein bisschen zum Aufrechterhalten der Beziehung beizutragen. Es vermittelt ihm das Gefühl, gebraucht zu werden.
Die Liebe zu Hanna hat Michaels Beziehungen, seine Ehe mit Gertrud (S.164/S.165 oben) und eigentlich sein ganzes Leben zerstört, ihm keinen Platz für ein Leben ohne die Gedanken über die Schuld an seiner Frau, seinem Kind und Hanna gelassen. Auch der Tod Hannas, Selbstmord in ihrer Zelle, hat ihn nicht davon befreit.
Im Grunde fürchtet Michael sich vor Hanna, er traut sich nicht, sie während der Gerichtsverhandlung zur Rede zu stellen und er schiebt den Besuch im Gefängnis auch lange vor sich her. Er ist süchtig nach Hanna und schafft es nie, sich ihr zu entziehen.
Die Gefühle von Michael zu Hanna haben sehr große Auswirkungen auf sein Leben, sie beherrscht seine Gedanken und lässt keine andere Liebe ohne Vergleiche zu. Bernhard Schlink sagt mit dieser Beziehung aus, dass die erste große Liebe nicht leicht vergessen wird und man nie über sie hinwegkommt, wenn man sie einfach verdrängt. Man muss sich ihr stellen und sie akzeptieren.
Meiner Meinung nach ist der im Jahre 1995 veröffentlichte Roman „Der Vorleser“ von Bernhard Schlink sehr tiefgründig und zum Teil auch spannend. Er gibt einem Einblick in die Geschehnisse während der Zeit des Nationalsozialismus und regt dazu an, sich mit diesem Thema auch weiter zu befassen. Er informiert einen schön über die Gefühle Michaels, auch wenn der häufige Wechsel zwischen dem sich erinnernden Ich und dem erlebendem Ich den Leser leicht verwirrt.

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